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Coronabriefe

Erster Coronabrief

Pfand

Ludwigsburg, den 17. September 2020

Liebe Do,

du machst dir keine Vorstellungen, was gestern hier los war: Nachdem uns zum wiederholten Male der Inhalt des Klos entgegengeschwappt kam, während sich mein Vermieter beharrlich weigerte, etwas daran zu ändern, was er doch eigentlich als derjenige, der die Miete kassiert, tun müsste, war das Fass im buchstäblichen Sinn zum Überlaufen gebracht und ich bestellte kurzerhand den Rohrreiniger; natürlich auf eigene Rechnung, was die Sache nicht erquicklicher machte.

Gegen acht in der Früh schlugen sie alle gleichzeitig hier auf. Für die oberste Wohnung, die gerade leer steht, hatte der Hausbesitzer den Heizungsmonteur bestellt; davon wusste ich freilich nichts. Desgleichen kam der Küchenbauer. Nach acht Wochen Leben im Provisorium, bei dem wir mehr oder weniger wackelig auf zwei über Tapezierböcke gelegte und mit Büchern aus dem Bücherschrank notdürftig gestützte Regalböden gegessen hatten, schraubte er die Hängeschränke an die Wand, baute Arbeitsplatte und Herd auf. Als schließlich auch der Rohrreiniger mit seinem Lieferwagen anrückte, wurde es eng in der Einfahrt: Die Kinder mussten sich, als sie von der Schule kamen, an einer Fahrzeugflotte vorbei zur Haustür schlängeln. Bens Rad blieb auf dem Rasenstück vor dem Haus stehen, anders ging es nicht.

Ich sah mich um. Es kam mir vor, als hätte soeben das Spezialeinsatzkommando zugeschlagen. Wobei der ganze Rummel mir galt; schließlich hatte mehr oder minder ich ihn veranlasst.

Warum ich dir das schreibe?

Nun, du weißt natürlich selbst, dass die merkwürdigen Irrwege des Alltags gelegentlich doch schöpferische Pfade einschlagen, häufig, wenn man es am wenigsten erwartet. Jedenfalls beugte ich mich heute Morgen über deine Fotos, wie ich es inzwischen jeden Morgen mache; insbesondere Pfand gehört daneben beschäftigt mich schon länger. Etwas an diesem Foto fesselt mich, es zieht mich in den Bann, auch wenn ich den Satz zunächst nicht verstand und es erst einiger Klicks im Internet bedurfte, bis ich den Sinn dahinter sah. Deshalb war es zunächst einfach nur das Wort Pfand, das sich in mir festhakte, und so begann ich zu recherchieren. Die Herkunft des Wortes liegt im Dunkeln, die Meinungen teilen sich, wo es seinen Ursprung nahm, doch ist der Gedankensprung zum Pfand im Sinne eines Lösegelds auch ohne dieses Wissen unverkennbar da. Und so kam es, dass ich an diesem Morgen unversehens über die Geiselnahme von Gladbeck las und den Einsatz des SEKs, weil mir das Gladbecker Geiseldrama als erstes einfällt, wenn ich das Wort Geisel höre. Eins ergab das andere, das Einsatzkommando vor meiner Haustür und dein Foto, als gehörten die Wirklichkeit, die wir erleben, und das Abbild derselben, wie wir es schreibend oder fotografierend erstellen, tatsächlich fugenlos zusammen.

Du erinnerst dich sicher noch, wie wir später am Morgen telefonierten und einander klagten, wie unmöglich es zuweilen erscheint, in der Zerpflücktheit eines einzelnen Tages mit seinen vielschichtigen Anforderungen aus Kleinem und Größeren den Raum zu öffnen für die künstlerische Lebensader, die wir mit unserem Dialog nähren wollen? Da dachte ich, heute nehme ich, was mir das Leben bot – und biete es dir an. Weil sich Kunst und Leben auf wunderliche Weise die Hände reichten, der Kreis sich schloss, beim Anblick deines Fotos, das vom Pfand erzählt.

Und so grüßt dich herzlich

Deine Dagmar

Foto Doris Behm

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