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Coronabriefe

Neunter Coronabrief

Blumen statt Paprika

Ludwigsburg, den 10. Oktober 2020

Liebe Do,

als wir gestern spazieren gingen, das Kind, der Hund und ich, wie wir es nun täglich machen wie einst in Halle an der Saale, wobei wir immer auch ein bisschen mehr die Gegend kennenlernen, kreuzten wir plötzlich einen Garten, den ich nicht anders als verwunschen nennen kann. Clematis zwängte sich üppig blühend durch die Lücken eines Jägerzauns, eine Katze schlich samtpfotig über die Beete, aus denen Radieschen und Möhren ihre Köpfe steckten. Gurken und Kürbisse rankten sich an Stäben in die schon merklich kühlere herbstlich blaue Abendluft. Auf einer Schiefertafel stand, mit Kreide geschrieben: Zwei Euro kostet der Salat.

Es stellte sich heraus: Es war eine Gärtnerei, auf die wir so unverhofft gestoßen waren. Sie hätte geradewegs einem Bilderbuch entsprungen sein können; so unwirklich kam sie mir vor in ihrer verschnörkelten Pracht. Ich kramte in meiner Tasche und fand neben dem obligatorischen Mund- und Nasenschutz einen Fünf-Euro-Schein. Heureka. Sonst habe ich selten Geld bei mir, wenn ich spazieren gehe.

Lange stand ich vor den rotglänzenden Paprika und den Möhren, die so knackig leuchteten, dass ich am liebsten hineingebissen hätte. Ich überlegte. Und entschied mich letztlich doch für einen Strauß aus bunten Wiesenblumen. Ich kann ihn nicht essen. Ich kann ihn nicht trinken. Aber ihn ansehen und daran schnuppern, das kann ich schon.

Jetzt steht er vor mir, während ich dir schreibe.

Er ist … schön.

Ich hoffe, dieser Tag wird gut für dich!

Du bist ja auch so eine, die mit der Kamera die Augenblicke einfängt, wie ich es mit meinen Worten versuche. Drückst du den Auslöser, frierst du die Momente ein, wobei Einfrieren nicht das treffende Wort ist, denn kalt sind deine Bilder gewisslich nicht. Eher kommt es mir vor, als hätte die Zuwendung, die du ihnen angedeihen lässt, Wärme und Liebe in sie hineingerubbelt.

Selbiges gilt wohl für die Poesie.

Wenn jedes Wort gefeilt und gewendet wurde, bis ein Text zu glühen beginnt, dann staune ich jedes Mal, wie aus reglosen Buchstaben Vergangenes zum Leben erwacht, sie einen Eindruck, einen Menschen, einen Ort vor Augen malen, dass man glaubt, man wäre selbst dabei gewesen.

Satt macht das natürlich nicht, zumindest füllt es nicht den Magen. Doch muss man kaum die Bibel zitieren, um zu ahnen, dass ein Mensch zwar essen und trinken muss, er stürbe sonst, und trotzdem lebt er nicht allein vom Brot. Auch Worte und Bilder nähren, was der Zuwendung bedarf, nenn es Seele, Herz oder Gemüt. Darum habe ich mich für die Blumen entschieden. Gegen Paprika und Rosenkohl.

Schon möglich, dass es aus Protest geschah. Ein stilles Aufbegehren, eine leise Weigerung, insbesondere in dieser lauten Zeit, da alles nach Digitalisierung schreit und gänzlich ohne Berührung auskommen will. Oder soll. Denn die Blumen erinnern mich – wie die Worte, die ich schreibe, wie die Bilder, die du schickst – dass ich mehr bin als reine Zweckmäßigkeit und die Berührung brauche durch etwas anderes, das mir davon erzählt. Danke für deine Bilder.

Fühl dich umarmt!

Von deiner Dagmar

3 Antworten auf „Neunter Coronabrief“

Danke, danke, lieber Jonny, danke, lieber Holger, ich freue mich sehr über eure Zeilen und danke dafür, denn genau darum soll es wohl (auch) gehen: Berührung durch Poesie. Ein bisschen Nahrung für die Seele!

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