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Coronabriefe

Fünfter Coronabrief

Müll

Ludwigsburg, den 23. September. 2020

Liebe Do,

gestern wurde meine Mülltonne nicht geleert. Und so sitzt der schwere Abfallbehälter noch immer grau und gut gefüllt mutterseelenallein am Straßenrand.

Seit meine Kinder Mitte März plötzlich die Schule verlassen und zuhause bleiben mussten, ging das Leben trotz Corona dennoch weiter. Wir aßen, wir tranken, wir stopften Müll in die Tonne; vermutlich haben wir damals sogar, dergestalt aufs Häusliche zurückgeworfen, noch mehr Abfall produziert. Dabei kamen die tapferen Müllmänner, die ich seit jeher für ihren Dienst bewundere, unvermindert zuverlässig angerollt, während bei mir zumindest jener Teil der Arbeit, der mir den meisten Verdienst einbringt wie Lesungen und Vorträge völlig ausfiel und mir nichts anderes zu tun übrigblieb, als zu schreiben (obwohl mein neustes Buch ebenfalls coronabedingt erst im nächsten Jahr erscheinen wird).

Heute, etliche Wochen später, sieht es kaum anders aus. Noch immer finden keine Lesungen statt, Seminare halte ich, wenn überhaupt, digital. Und wir essen, wir trinken und produzieren weiterhin unseren Müll.

Schwer zu sagen, wohin das führt. Manchmal schnürt es mir die Kehle zu. Es bereitet mir Angst, dass ich mir ein Leben des fortwährenden Konsums bei zeitgleich ausbleibenden Einnahmen bald nicht mehr leisten kann. Wenn dann noch der Mülleimer überquillt, weil ihn niemand leert, wird die zwangsverordnete Inklusion zur Implosion. Fraglich ist, wie das gehen soll, ohne daran zu ersticken.

Dabei kommt mir der Gedanke, dass in Ländern, in denen der Müll in Bergen die oftmals schöne Landschaft verunstaltet, denn vielleicht auch weniger dem mangelnden Bewusstsein für eine Umwelt, die es zu schonen und zu pflegen gilt, geschuldet ist, sondern vielmehr der Armut, die sich solch ein zivilisiertes Luxusgut wie eine funktionierende Müllabfuhr schlichtweg nicht leisten kann.

Selbiges gilt vermutlich auch für Strom und Gas. Auch Wärme und Licht wollen bezahlt sein; es gibt (fast) nichts umsonst.

Eine Psychologin erzählte mir unlängst, manche Klienten könnten ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen und so wachten die Kinder morgens im Dunkeln auf und gingen abends schlafen, ohne das Licht auszuknipsen.

Übrigens ging an diesem Morgen auch bei mir das Licht nicht an. Die Glühbirne in der kleinen Leuchte auf der Veranda, wo ich täglich schreibe, ehe die Sonne aufgeht, brannte durch. Das geschah gleich zweimal hintereinander.

Es ist eine merkwürdige Zeit, wie mir scheint. Sie verlangt mir einiges ab, bis mir ein Licht aufgeht.

Und so grüßt dich herzlich

Deine Dagmar

Foto Doris Behm

Halle, den 3. Dezember 2020

Liebe Dagmar,

als ich an diesem Stillleben vorbei lief, dachte ich: „Wow, hier gab es eine Stichflamme, eine Erkenntnis, einen nachhaltigen Eindruck, eine emotionale Bewegung.“ Wie kommt jemand dazu, eine abgebrannte Streichholzschachtel so gekonnt zu drappieren? Das Bild bewegt mich immer noch.

Herzlich, deine Do

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