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Coronabriefe

Siebter Coronabrief

Fatica di scriptura

Ludwigsburg, den 4. Oktober 2020

Liebe Do,

als ich heute Morgen vor meinem Kleiderständer stand und mich fragte, was ich anziehen soll, neigte er sich schief. Die beiden hinteren Stangen kippten gemächlich, fast hätte man glauben können, sie täten es genüsslich, Richtung Boden wie bei einem Kamel, das vor dem Ansturm einer Touristenhorde ergeben in den Wüstenstaub sinkt.

Kurz nachdem ich nach Ludwigsburg gezogen war, hatte ich mir das Gestell aus schwarzem Metall angeschafft, mal so eben nebenbei. Ich hielt das, da sich in meinem Zimmerchen, kaum hatte ich Bett und Schreibtisch aufgestellt und die Regale ringsum mit meinen Büchern gefüllt, kein Platz mehr fand, an dem ich noch einen Kleiderschrank hätte aufstellen können, für eine wunderbare Idee, so herrlich praktikabel ohne jeden emotionalen Schnickschnack.

Damit war es nun auch schon wieder vorbei.

Gänzlich unbekannt ist mir das freilich nicht.

Schon Renaissance und Frühbarock diskutierten im Paragone delle arti das Konzept der Fatica, jene Verausgabung, der schon mal anheimfallen kann, wer sich mit Kunst beschäftigt, wie wir es beide tun, wobei es für mich ohne Belang ist, ob die Erschöpfung körperlichen (del corpo) oder geistigen (di mente) Ursprungs ist, ihre Auswirkung bleibt sich schließlich gleich: Die Augenlider werden schwer, die Finger finden die Tasten nicht länger, schon sinkt der Kopf hernieder und knallt, peng!, auf die Tastatur. eoagiwe4ehdvg<nd<-oaBEPRIN erscheint auf dem Bildschirm. So sieht es aus, wenn der Kopf zum Dichter wird.

Ich gebe zu: Das Bemühen, die eigenen Empfindungen in Worte zu kleiden, überwältigt mich bisweilen. Dann gebe ich auf und schlafe erst mal eine Runde. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf sehe ich meinen Kleiderständer mit Milde an. Mir dünkt, ich verstehe ihn. Jedenfalls kann ich es ihm kaum verdenken, dass er meine Kleider nicht länger tragen will. Eines Tages werde ich sie noch vom Boden auflesen. Aber bis dahin hänge ich sie weiter an ihm auf. Wie ich auch weiter schreibe und den Dingen, die ich sehe, und dem, was ich dabei fühle und empfinde, weiterhin die Worte umlege, sie umkleide, als wären Worte Mäntel. Und manchmal, unversehens, wärmen sie sogar. Findest du nicht auch?

Hab es gut an diesem Tag!

Deine Dagmar

Foto Doris Behm

Liebe Dagmar,

wie sich manch widerstrebende Kräfte in den Dingen offenbaren, jeden Tag aufs Neue, finde ich interessant. Jetzt würde mich die Lösung dieses Problems interessieren und eventuell mein Herz wärmen. Je nach dem.

Ich grüße dich herzlich,

deine Do

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